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Alte Heimat, neue Zweifel

Letztes Wochenende bin ich mit den Kindern nach Schleswig-Holstein gefahren, in das Dorf, das vor einem Jahr noch unser Zuhause war. Den Weg dorthin wusste ich auswendig und beim Passieren des Ortsschildes schlich sich sofort eine gewisse Vertrautheit ein.

Das Haus, in dem wir über 3 Jahre gewohnt haben, hat sich nicht verändert. Jetzt wohnt eine neue Familie dort, die an einigen Fenstern sogar noch unsere Gardinen hängen lassen haben. Bis auf wenige Sachen hat sich auch das Dorf nicht verändert. Es ist alles wie immer, nur ohne uns.

Die Kinder haben sich riesig auf die zwei Tage gefreut, weil sie endlich ihre alten Freunde wiedersehen und mit ihnen wie einst spielen konnten. Und auch ich freute mich sehr darauf, meine Freundinnen wiederzusehen, mit Ihnen viel zu lachen und zu quatschen. Die Zeit verging wie im Flug und alles war wie früher, als ob es das letzte Jahr nicht gegeben hat.

Als ich uns alle so glücklich und lachend gesehen habe, kamen die alten Zweifel in neuem Gewand um die Ecke und fragten mich: Warum hast du das aufgegeben?

Wir hatten Freunde, keine finanziellen Sorgen und vieles mehr… Das Teufelchen auf meiner rechten Schulter schoss sofort mit seinen vorwurfsvollen Fragen um sich: War es das alles wert? Warum konntet ihr nicht einfach so weiterleben? Was wäre wohl dann aus euch geworden? Wie hättet ihr jetzt gelebt?

Und dann kam die KO-Frage: Bist du jetzt glücklicher als damals?

Ich zuckte mit der Schulter und konnte kein klares JA formulieren. Das Engelchen erschien auf meiner linken Schulter und musste viel Redekunst leisten, um dem Teufelchen die Stirn bieten zu können – einig wurden sich die beiden nicht. Es blieb bei einem klaren Unentschieden und ich versuchte, eine passende Erklärung für mich zu finden.

Ich wäre nicht das, was ich jetzt bin, wenn es die letzten 12 Monate nicht gegeben hätte – das weiß ich mit Sicherheit. Es gibt viele Vorteile, die wir jetzt genießen können, aber auch Nachteile, die wir vorerst hinnehmen müssen. Statt ein klares JA zu äußern, würde ich diplomatisch sagen: „Ich bin anders glücklich. Bewusster. Innerlich ruhiger. Selbstbestimmter. Stärker. Werteorientierter. Mental Klarer. Öfter Lachend.“

Und ich hoffe, dass diese Art des Glücklichseins nachhaltiger ist als die, die ich früher gelebt habe. Es ist ok, wenn es an der einen oder anderen Stelle hakt. Aber ich habe endlich aufgehört, hinter dem hinterher zu hetzen, was mir durch andere Leute vorgelebt wird, es sei notwendig um glücklich zu sein. Alles hat seine Zeit und für manches ist jetzt eben nicht die Zeit.

Ich weiß, dass ich noch nicht am Ende meines Weges bin, aber ich vertraue darauf, dass alles gut wird. Jetzt kann ich das – vertrauensvoll und zuversichtlich in die Zukunft blicken. Das war mir vor 1,5 Jahren nicht möglich – ganz im Gegenteil sogar. Da war ich mitunter der Meinung, dass sich die Zukunft ohne meine Person viel besser gestalten lässt als mit ihr.

„Heute ist ein guter Tag um glücklich zu sein. Wenn´s bliebe, mir zuliebe. Wird auch langsam Zeit.“ (Max Raabe)

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Wie aus Pandoras Büchse eine funkelnde Spieluhr wurde

Seit fast 30 Jahren schleppe ich einen Rucksack mit mir rum. Anfangs war er noch sehr klein, aber er wuchs von Jahr zu Jahr und wurde stetig größer. Wenn ich jemanden begegne, ahnt er von diesem Rucksack nichts, er sieht ihn nicht mal ansatzweise, für mich ist er jedoch allgegenwärtig. An guten Tagen ist er leichter, an schlechten Tagen ist er so schwer, dass ich kaum laufen kann.  

Ähnlich der Büchse der Pandora enthält mein Rucksack größtenteils Trauer, Tod, Verlust, Schmerz und Wut. Deswegen habe ich bisher alles daran gesetzt, diesen Rucksack fest verschlossen zu halten – es durfte niemand reingucken und es sollte auch nichts zufällig daraus entwischen. Einzig allein aus der Hoffnung heraus, dass dieser verhasste Rucksack von sich aus kleiner wird und irgendwann vielleicht verschwindet, habe ich niemanden davon erzählt.

Und warum sollte ich auch davon erzählen? Die Themen Tod und Trauer sind nicht gesellschaftsfähig, sind kein typisches Gesprächsthema nachmittags beim Kaffee trinken und werden auch nicht gehypt wie die angesagtesten Influencer. Ganz im Gegenteil, diese Themen werden tabuisiert, aus dem alltäglichen Leben verbannt, mit dem Ziel, so wenig wie möglich darüber zu sprechen, zu lesen, zu hören und zu sehen. Frei nach der Devise: Sehe ich dich nicht, bist du nicht da!

Soll ich dir was sagen? Es hat nicht funktioniert. Ich habe mir wirklich Mühe gegeben, aber es hat nicht geklappt, viele Jahre nicht. Indem ich diese Tabu-Themen ganz tief in mein Inneres vergraben habe, habe ich die Sache an sich nur noch schlimmer gemacht – der Rucksack wurde immer schwerer und die Angst, die Büchse zu öffnen, immer größer.

Nun nehme ich seit einiger Zeit an einen wöchentlichen Kurs teil, durch den ich am Ende die Möglichkeit habe, ehrenamtlich als Trauer- oder Sterbebegleiterin zur Verfügung zu stehen. Dieser Kurs und die Inhalte dieser Stunden haben mich von Anfang an gezwungen, mich mit dem Tod und der Trauer auseinanderzusetzen, in einer mir bisher unbekannten und ungewollten Intensität.

Für diesen Kurs habe ich mich ganz bewusst entschieden, weil ich etwas Gutes tun möchte und hoffentlich gleichzeitig meine größten Dämonen – Tod und Trauer – damit besiege, einfach weil ich mich ihnen stelle.

Soll ich dir was sagen? DAS funktioniert!

An dem letzten Samstag trafen sich alle Teilnehmer zu einer Tagesveranstaltung, die das Thema „Eigene Trauererfahrungen“ trug. Jeder sollte über seine persönliche Begegnung mit dem Tod berichten. Vor diesem Tag habe ich mich gefürchtet, weil ich mich ganz genau kenne und wusste, dass es ein Tag voller Emotionen und Tränen wird. Es kam wie es kommen musste. Mir liefen schon bei der ersten Geschichte die Tränen. Das hörte auch den ganzen Tag nicht mehr auf und fand seinen Höhepunkt als ich an der Reihe war, meine eigene Geschichte zu erzählen.

Ich erzählte, was passiert war – damals am 15. November 1994 – woran ich mich erinnern kann, wie ich mich gefühlt habe, was ich vermisst habe und wie dieser Tag bis heute meine Leben prägt. Ich konnte endlich die Worte loswerden, die ich bisher hinter verschlossenen Türen geheim gehalten habe. Diese Worte konnte ich endlich jemanden sagen, der neutral ist, der mich nicht mit tränengefüllten Augen anschaut und bei dem ich keine Angst haben muss, alte Wunden wieder aufzureißen. Der den Tod als Teil des Lebens betrachtet und ihm damit seine Macht nimmt, die er so viele Jahre auf mich ausgeübt hat.

Jetzt merke ich, wie mein Rucksack allmählich leichter wird, offen ist, für andere zugänglich und das eine oder andere Detail auch mal rausfallen darf.

Ich weine immer noch, wenn ich an meinen Bruder Thomas denke, der durch einen Autounfall ums Leben gekommen ist, aber ich habe einen besseren Weg gefunden, damit umzugehen. Ich vermisse ihn mehr denn je und es gibt keinen Tag, an dem ich nicht an ihn denke. Doch die Erinnerungen, die ich an ihn habe – sein schneller Gang, sein aufrichtiges Lachen, seine verrückte Vorliebe für Cola mit Brötchen und die ungezwungene Art wie er mit mir als Schwester umgegangen ist, sind schöne und wertvolle Erinnerungen, die ich zulassen darf, jetzt in einer funkelnden Spieluhr aufbewahre, dort zum Leuchten bringe und nebenbei von seiner Lieblingsmusik begleitet werden. Die es verdient haben, gefeiert und mit anderen geteilt zu werden.