Kategorien
Status

Feiern statt trauern

Es ist November. Und der November ist mein absoluter Hass-Monat. Wettertechnisch ist dieser Monat durchzogen von Regen, Kälte und der Farbe Grau – nicht jeden Tag, aber oft. Für meine Verhältnisse viel zu oft.

Dann hält der November viele Tage bereit, die meinetwegen auch aus dem Kalender gestrichen werden könnten. Angefangen mit dem Geburtstag meines mir noch verbliebenen Bruders. Auf dem Papier ist er mit mir blutsverwandt, aber meiner Definition eines Bruders entspricht er schon seit mindestens 20 Jahren nicht mehr. Ich vermute, das stößt auf Gegenseitigkeit, denn zwischen uns herrscht schon seit über 10 Jahren Funkstille.

Danach kommt dann der 15.11. Und das ist der schlimmste Tag im Jahr, weil sich an diesem Tag der Unfall meines Bruders Thomas jährt. An diesem Tag steht meine Welt bedrückend still. Ich weiß nichts mit mir anzufangen und versuche, diesen Tag irgendwie zu überstehen. Ich denke dann oft an den 15.11.1994 zurück und wie mein Leben seitdem verlaufen ist.

Trauer wird in mehreren Phasen eingeteilt. Ich lehne mich jetzt mal ganz weit aus dem Fenster hinaus und behaupte, ich bin endlich in der letzten Phase angekommen: Akzeptanz. Ob das wirklich so ist, kann mir wahrscheinlich nur ein Psychiater sagen. Aber sei es drum … viele Jahre war ich wütend (2. Phase der Trauer), wahrscheinlich ohne es zu merken. Bis es mir jemand mal auf den Kopf drauf zugesagt hat. Und ja, wenn mir jemand meinen geliebten Bruder wegnimmt, ohne dass ich mich von ihm verabschieden kann, habe ich ja wohl allen Grund dazu, wütend zu sein – auf mich, auf die anderen, auf die ganze Welt.  

Jetzt schaffe ich es endlich, diesen Verlust zu akzeptieren – glaube ich. Ich weiß, ich konnte es damals nicht verhindern und ich kann es jetzt nicht mehr ändern. Und diese Tatsache musste lange Wege gehen, bis sie in meinem Kopf angekommen ist. Mittlerweile habe ich Mittel und Wege gefunden, besser damit umzugehen. 

Ende November kommt dann noch der Totensonntag oder auch Ewigkeitssonntag genannt. Dieser Tag ist den Toten gewidmet und jeder sollte ihnen an diesem Tag gedenken. Ich halte von diesem Tag gar nichts, weil er hierzulande immer gediegen abläuft … still, in Andacht, in Trauer. Und das gefällt mir nicht. Früher dachte ich, das sei der einzige Weg, sich an die Toten respektvoll zu erinnern. Aber es geht auch anders, wie mir auf banaler Weise ein Animationsfilm gezeigt hat.

Der Walt Disney Film „Coco“ greift das Thema „Tod“ auf und macht es seinen Zuschauern auf lustige und lebensbejahende Weise zugänglich. Die Geschichte spielt in Mexiko und zeigt die mexikanischen Traditionen rund um den „Dia de los Muertos“ – der Tag der Toten, der jedes Jahr am 02.11. gefeiert wird. Diesen Tag verbringen die Mexikaner nicht etwa allein und leise zu Hause. Nein, sie feiern ihn. Sie feiern ihn laut und bunt und ausgelassen. Die Vorbereitungen dafür laufen schon Tage vorher an.

Sie stellen Ofrendas – so eine Art Altäre – auf, die reichlich geschmückt sind mit Blumen, Kerzen, Essen, Andenken und Bildern der Verstorbenen. Für die Mexikaner sind die Verstorbenen immer noch Mitglieder ihrer Gemeinschaft, die durch die Erinnerungen an sie am Leben gehalten werden.

In der Nacht vom 2.11. auf den 3.11. haben die Toten die Möglichkeit, als Geister ins Reich der Lebenden einzutreten. Dafür müssen sie über eine Brücke gehen, die das Reich der Toten mit unserer Welt verbindet.

So stelle ich mir eine richtige Gedenkfeier für die Toten vor – Feiern statt trauern. Das wäre doch mal was anderes. Warum müssen wir auch ständig traurig sein? Wir könnten doch stattdessen das gelebte Leben unserer Freunde und Verwandte feiern?!

Bisher habe ich nur Tränen vergossen, weil mein Bruder nicht mehr da ist. Aber gefeiert, dass er überhaupt da war, dass wir viele schöne Momente zusammen verbracht haben und dass er ein kurzes, aber glückliches Leben gelebt hat – das habe ich noch nie.

Ich will nicht mehr traurig sein. Traurig sein bringt mir meinen Bruder auch nicht mehr zurück. Feiern bringt ihn mir auch nicht zurück, aber würde ihn angemessen in Erinnerung halten. Und mir den Verlust und das Leben erleichtern.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert