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Alles hat seine Zeit

Vor wenigen Wochen ist ein ganz besonderer Mensch wieder in mein Leben getreten – ganz unerwartet, mit leisen Schritten und wohltuender Herzenswärme. Dieser Mensch war vor ca. 29 Jahren für einen Wimpernschlag Teil meines Lebens und verschwand danach leise und unauffällig. Er war seitdem immer da aber nie mehr präsent.

Sofia* (* Name geändert) war ein ganzes halbes Jahr vor dem Tod meines Bruders seine Freundin. Für beide war es Liebe auf den ersten Blick und so innig wie sie ihn zu Lebzeiten geliebt hatte, so intensiv hatte sie nach seinem Tod um ihn getrauert. Nach dem Unfall kam sie uns noch regelmäßig besuchen, irgendwann fühlte es sich nicht mehr gut an und sie blieb unserer Familie fern. Seitdem hatten wir uns nur noch einmal flüchtig gesehen.

Neulich hatte sie meinen Artikel „Pandoras Büchse“ gelesen und sich daraufhin bei mir gemeldet. Wir trafen uns dann und hatten unser allererstes richtiges Gespräch. Zwischen uns gab es gleich eine angenehme Vertrautheit. Wir redeten miteinander, als wenn wir uns schon ewig kennen würden und uns erst gestern voneinander verabschiedet hätten.

Anfangs sprachen wir über allgemeine Sachen, aber dann kamen wir ganz automatisch auf das Thema, das seit Jahrzehnten unsere Gemeinsamkeit darstellte. Sie erzählte mir Dinge, die ich vorher noch nicht wusste und nach denen ich jetzt erst anfing zu fragen. Wir gaben dem anderen Einblick in unsere Gefühle und Gedanken, tauschten Erinnerungen aus, lachten und weinten. Stück für Stück fügten sich Puzzleteile zu einem Bild zusammen und halfen mir dabei, die damaligen Geschehnisse nachzuvollziehen und die Reaktionen besser zu verstehen.

Jeder Mensch hat seine eigene Art zu trauern. Dabei trauern 11jährige Mädchen anders als 40jährige Frauen. Natürlich war ich damals über den Verlust meines Lieblingsbruders sehr traurig, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich wirklich getrauert hätte. Vielleicht war mir das Trauern rein physiologisch auch gar nicht möglich?! Und als ich dann dazu in der Lage war – viele Jahre später – habe ich mir selbst keinen Raum mehr dafür gegeben und versucht, die Trauer zu verschweigen, zu ersticken und niemals zuzulassen.

Alles hat seine Zeit. Auch Trauer hat seine Zeit. Das, was mir damals nicht möglich war, muss ich vielleicht irgendwann nachholen? Vielleicht ist jetzt erst der richtige Zeitpunkt zum Trauern? Vielleicht weil ich jetzt jemanden an meiner Seite habe, der mich versteht, der mit mir in ohne schlechtes Gewissen in Erinnerungen schwelgt, der mit mir trauert und mit dem ich auch trauern darf. Jemand, der mir Halt gibt, so wie ich ihm Halt geben kann. Jemand, mit dem ich die Leere teilen kann und sie somit für uns beide erträglicher wird.

Thomas war jemand mit einer harten Schale und einem weichen Kern. Mit seiner offenen, freundlichen Art und seinem ehrlichen Lachen verstand er es, die Leute um sich zu scharen und zusammen zu bringen. Er hatte deshalb viele Freunde und unser Haus war nie leer. Auch nach seinem Tod versteht er es, Menschen zu vereinen. Er hat es geschafft, dass das, was Sofia und mich einst trennte, uns jetzt wieder vereint. Und vielleicht sollte es so sein, dass diese Vereinigung 29 Jahre auf sich warten ließ, eben weil sie jetzt erst das volle Ausmaß ihrer Wirkung zeigen kann.

Ich bin glücklich und dankbar dafür, dass Sofia wieder Teil meines Lebens geworden ist und ich wünsche mir sehr, dass sie dieses Mal länger als einen Wimpernschlag bleibt.

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