Kategorien
Status

Unbekanntes Terrain

Morgen früh geht’s los. Morgen findet der erste Tag meines vierwöchigen Grundlagenkurses statt. Damit beginnt ein neuer Abschnitt in meinem Leben, für den ich mich auf unbekanntes Terrain begebe. Ich habe nur eine geringe Ahnung, was mich erwartet und bin daher umso gespannter auf das, was vor mir liegt. Ich gehe da völlig ohne Erwartungen ran und lasse das Ganze einfach auf mich zukommen.

Diesen Schritt, der mich jetzt an diesen Punkt gebracht hat und mich in ein neues Abenteuer führt, habe ich im Oktober 2022 gewagt. Am 14.10.2022 habe ich mich im Matorixmatch-Portal registriert und meine Dokumente hochgeladen. Damit habe ich mich offiziell für eine Lehreranstellung im Land Sachsen-Anhalt beworben. Da ich kein Lehramt studiert habe, werde ich als sogenannte Seiteneinsteigerin bezeichnet.

Wie kam ich auf diese Idee?

Nun…viele Überlegungen haben mich auf diese Idee gebracht. Ausgehend von meinem innigsten Wunsch, meine finanzielle Unabhängigkeit wieder zu erlangen, war der Lehrerjob eine attraktive Alternative zu den Anstellungen, die ich als Chemieingenieurin in der Altmark in Aussicht gehabt hätte.

Meine bisherige Arbeit hat mir viel Spaß gemacht, aber ich konnte mein chemisches Wissen, was ich mir in den letzten Jahrzehnten angeeignet hatte, nicht nutzen, weil der Bedarf einfach nicht da war. Es war schlicht nicht notwendig, dieses Wissen abzurufen. Somit hatte ich das Gefühl, immer mehr davon zu vergessen. Das machte mich traurig und ich wollte dem entgegensteuern.  

Nicht nur in Sachsen-Anhalt, sondern auch in ganz Deutschland herrscht akuter Lehrermangel und somit wird der Seiteneinstieg von Fachkräften sehr gefördert und ist, im Gegensatz zu dem Prozess von vor 10 Jahren, deutlich vereinfacht worden. Mein Neffe ist gerade in der 8. Klasse und hat sehr viel Unterrichtsausfall. Diese Situation ist extrem unbefriedigend sowohl für die Schüler, als auch für die Eltern. Das Beste, um daran etwas ändern zu können, ist eben selbst den Lehrerberuf zu ergreifen. Damit erhöhe ich die Chance, dass es unseren Kindern nicht genauso ergehen muss.  

Ich habe großen Respekt vor dem Lehrerberuf, weil er so viel Verantwortung mit sich trägt und so viel mehr ist als „nur vor der Klasse zu stehen und seinen Stoff runter zu erzählen“, dass ich der Überzeugung bin – genauso wie es im Allgemeinen heißt – Lehrer zu sein, ist kein Beruf, sondern eine Berufung. Ich hatte damals im Chemie-Leistungskurs einen tollen Lehrer, der mir die Chemie als etwas Natürliches, Wunderbares und Einzigartiges erklärt hat. So habe ich mich in sie verliebt und darin meinen Beruf gefunden.  

Obwohl ich nie Lehrerin werden wollte, nehme ich jetzt diese Herausforderung an und probiere mich aus. Ob es auch meine Berufung werden kann, wird sich in den nächsten Monaten herausstellen. Ich werde auf jeden Fall mein Bestes geben und sehen, was sich daraus entwickelt. Im Idealfall schaffe ich es, meinem Vorbild nachzuahmen und in manchen Schülern das gleiche Interesse für die Chemie zu wecken, wie mein Lehrer es damals bei mir geschafft hat.

Damit wäre dann der Lehrerberuf in Sachen Sinnhaftigkeit und Nachhaltigkeit die absolute und unangefochtene Nummer eins meiner gesamten Anstellungen – und das ist, meiner Meinung nach, das wertvollste aller Attribute, was ein Job je haben kann.

Kategorien
Allgemeines

Freunde kommen, Freunde gehen

In meiner Kindheit hatte ich viele Freunde. Dieser schöne Umstand änderte sich auch nicht als ich älter wurde. Meine Schulzeit ging und meine Studentenzeit kam. Auch diese aufregende Zeit ging nach vier Jahren zu Ende und ich stieg in den Arbeitsalltag ein. Es begann die Zeit der Umzüge – und es kamen etliche Umzüge. Doch aus jeder kleinen Etappe meines Lebens nahm ich ein Stück mit und zog damit weiter… wertvolle Erinnerungen und gute Freunde begleiteten mich.

Im Laufe der Jahre wurde mein Telefonbuch immer dicker und ich versuchte, mit jedem einzelnen meiner Freunde in Kontakt zu bleiben und diesen auch regelmäßig zu pflegen. Das gelang mir ganz gut bis unsere Familie wuchs und dazu entgegengesetzt meine freie Zeit schwand. Dennoch versuchte ich alles, um Freundschaften nicht einschlafen zu lassen, weil sie mir schon immer wirklich wichtig waren. Die Konsequenz daraus war, dass wir im Jahre 2019 von 52 Wochenenden 40 verplant waren.

Die beiden darauffolgenden Jahre führten dazu, dass mein Weltbild über Freundschaften komplett auf den Kopf gestellt wurde. Das Jahr 2022 verpasste meinem „Studium der Freundschaftswissenschaften“ dann den letzten Schliff und seitdem ist mein Verständnis von dem Begriff „Freundschaft“ ein völlig anderes geworden.

Mark Forster singt in seinem Lied „Sowieso“ folgende Textpassage:

                „Ich schätze Wegbegleiter,

                auch wenn alles seine Zeit hat.

                Mal 11 Freunde, dann

                doch „One-on-one“ Karate Fighter.“

Diese Zeilen habe ich früher nicht verstanden. Warum sollten meine Freunde auch plötzlich nicht mehr da sein?! Auch wenn es lange gedauert hat und meine Erfahrungen teilweise sehr schmerzvoll waren – jetzt endlich verstehe ich seine Zeilen.

Die meisten meiner Freunde haben sich meist unbemerkt in mein Leben geschlichen. Von heute auf morgen waren sie einfach da. Manche von ihnen haben sich auch genauso leise wieder daraus zurückgezogen, ohne dass ich den wahren Grund dafür je kennen werde.

Einige von ihnen sind seit vielen Jahren an meiner Seite. Das macht mich sehr glücklich und ich bin unendlich dankbar dafür. Wir gehen zusammen ein Stück unseres gemeinsamen (Lebens-)Weges und genießen die Zeit miteinander.

Doch ab und zu kommt ein Abschied, auch von langjährigen Freunden. Mal verläuft er plötzlich, mal schleichend. Dann ist es an der Zeit, dass sich unsere Wege trennen. In dem Moment ist es für mich sehr traurig aber ich weiß, es geht nicht anders. Was mir bleibt, sind die schönen Momente, die wir zusammen erlebt haben.

Mein Weg und der meiner Freunde ist zu allen Seiten offen, jeder kann die Richtung ändern, wann immer er will und es für richtig hält. Niemand wird gezwungen, mit mir weiterzugehen. So kommt es eben, dass ich meinen Weg mal mit sehr vielen Freunden teile oder aber ihn auch nur mit weniger von ihnen weitergehe.

Weil heute für mich nicht mehr die Anzahl meiner Freunde zählt, sondern nur noch die Qualität unserer Freundschaft, habe ich mich von einigen meiner „Freunde“ virtuell verabschiedet indem ich ihre Kontaktdaten aus meinem Handy gelöscht habe. Die Zeit dafür war gekommen und ich fühlte mich hinterher freier. Trotzdem erinnere ich mich gern an unsere gemeinsamen Momente und diese schönen Erinnerungen werden für immer in meinem Herzen bleiben.

Mein Freundeskreis ist dadurch kleiner geworden – und wird in Zukunft wohl noch mehr schrumpfen – aber das ist ok. Jetzt ist es für mich ok, weil ich weiß, dass alles seine Zeit hat, auch Freundschaften. Der freie Platz in meinem Handy ist nun für alte und neue Wegbegleiter reserviert, die sich vielleicht in Zukunft (wieder) zu mir gesellen. Ich freue mich über jeden, der mit mir ein Stück des Weges geht und mir damit neue wunderbare Erinnerungen schafft.

Kategorien
Allgemeines

Alles hat seine Zeit

Vor wenigen Wochen ist ein ganz besonderer Mensch wieder in mein Leben getreten – ganz unerwartet, mit leisen Schritten und wohltuender Herzenswärme. Dieser Mensch war vor ca. 29 Jahren für einen Wimpernschlag Teil meines Lebens und verschwand danach leise und unauffällig. Er war seitdem immer da aber nie mehr präsent.

Sofia* (* Name geändert) war ein ganzes halbes Jahr vor dem Tod meines Bruders seine Freundin. Für beide war es Liebe auf den ersten Blick und so innig wie sie ihn zu Lebzeiten geliebt hatte, so intensiv hatte sie nach seinem Tod um ihn getrauert. Nach dem Unfall kam sie uns noch regelmäßig besuchen, irgendwann fühlte es sich nicht mehr gut an und sie blieb unserer Familie fern. Seitdem hatten wir uns nur noch einmal flüchtig gesehen.

Neulich hatte sie meinen Artikel „Pandoras Büchse“ gelesen und sich daraufhin bei mir gemeldet. Wir trafen uns dann und hatten unser allererstes richtiges Gespräch. Zwischen uns gab es gleich eine angenehme Vertrautheit. Wir redeten miteinander, als wenn wir uns schon ewig kennen würden und uns erst gestern voneinander verabschiedet hätten.

Anfangs sprachen wir über allgemeine Sachen, aber dann kamen wir ganz automatisch auf das Thema, das seit Jahrzehnten unsere Gemeinsamkeit darstellte. Sie erzählte mir Dinge, die ich vorher noch nicht wusste und nach denen ich jetzt erst anfing zu fragen. Wir gaben dem anderen Einblick in unsere Gefühle und Gedanken, tauschten Erinnerungen aus, lachten und weinten. Stück für Stück fügten sich Puzzleteile zu einem Bild zusammen und halfen mir dabei, die damaligen Geschehnisse nachzuvollziehen und die Reaktionen besser zu verstehen.

Jeder Mensch hat seine eigene Art zu trauern. Dabei trauern 11jährige Mädchen anders als 40jährige Frauen. Natürlich war ich damals über den Verlust meines Lieblingsbruders sehr traurig, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich wirklich getrauert hätte. Vielleicht war mir das Trauern rein physiologisch auch gar nicht möglich?! Und als ich dann dazu in der Lage war – viele Jahre später – habe ich mir selbst keinen Raum mehr dafür gegeben und versucht, die Trauer zu verschweigen, zu ersticken und niemals zuzulassen.

Alles hat seine Zeit. Auch Trauer hat seine Zeit. Das, was mir damals nicht möglich war, muss ich vielleicht irgendwann nachholen? Vielleicht ist jetzt erst der richtige Zeitpunkt zum Trauern? Vielleicht weil ich jetzt jemanden an meiner Seite habe, der mich versteht, der mit mir in ohne schlechtes Gewissen in Erinnerungen schwelgt, der mit mir trauert und mit dem ich auch trauern darf. Jemand, der mir Halt gibt, so wie ich ihm Halt geben kann. Jemand, mit dem ich die Leere teilen kann und sie somit für uns beide erträglicher wird.

Thomas war jemand mit einer harten Schale und einem weichen Kern. Mit seiner offenen, freundlichen Art und seinem ehrlichen Lachen verstand er es, die Leute um sich zu scharen und zusammen zu bringen. Er hatte deshalb viele Freunde und unser Haus war nie leer. Auch nach seinem Tod versteht er es, Menschen zu vereinen. Er hat es geschafft, dass das, was Sofia und mich einst trennte, uns jetzt wieder vereint. Und vielleicht sollte es so sein, dass diese Vereinigung 29 Jahre auf sich warten ließ, eben weil sie jetzt erst das volle Ausmaß ihrer Wirkung zeigen kann.

Ich bin glücklich und dankbar dafür, dass Sofia wieder Teil meines Lebens geworden ist und ich wünsche mir sehr, dass sie dieses Mal länger als einen Wimpernschlag bleibt.

Kategorien
Allgemeines

Alte Heimat, neue Zweifel

Letztes Wochenende bin ich mit den Kindern nach Schleswig-Holstein gefahren, in das Dorf, das vor einem Jahr noch unser Zuhause war. Den Weg dorthin wusste ich auswendig und beim Passieren des Ortsschildes schlich sich sofort eine gewisse Vertrautheit ein.

Das Haus, in dem wir über 3 Jahre gewohnt haben, hat sich nicht verändert. Jetzt wohnt eine neue Familie dort, die an einigen Fenstern sogar noch unsere Gardinen hängen lassen haben. Bis auf wenige Sachen hat sich auch das Dorf nicht verändert. Es ist alles wie immer, nur ohne uns.

Die Kinder haben sich riesig auf die zwei Tage gefreut, weil sie endlich ihre alten Freunde wiedersehen und mit ihnen wie einst spielen konnten. Und auch ich freute mich sehr darauf, meine Freundinnen wiederzusehen, mit Ihnen viel zu lachen und zu quatschen. Die Zeit verging wie im Flug und alles war wie früher, als ob es das letzte Jahr nicht gegeben hat.

Als ich uns alle so glücklich und lachend gesehen habe, kamen die alten Zweifel in neuem Gewand um die Ecke und fragten mich: Warum hast du das aufgegeben?

Wir hatten Freunde, keine finanziellen Sorgen und vieles mehr… Das Teufelchen auf meiner rechten Schulter schoss sofort mit seinen vorwurfsvollen Fragen um sich: War es das alles wert? Warum konntet ihr nicht einfach so weiterleben? Was wäre wohl dann aus euch geworden? Wie hättet ihr jetzt gelebt?

Und dann kam die KO-Frage: Bist du jetzt glücklicher als damals?

Ich zuckte mit der Schulter und konnte kein klares JA formulieren. Das Engelchen erschien auf meiner linken Schulter und musste viel Redekunst leisten, um dem Teufelchen die Stirn bieten zu können – einig wurden sich die beiden nicht. Es blieb bei einem klaren Unentschieden und ich versuchte, eine passende Erklärung für mich zu finden.

Ich wäre nicht das, was ich jetzt bin, wenn es die letzten 12 Monate nicht gegeben hätte – das weiß ich mit Sicherheit. Es gibt viele Vorteile, die wir jetzt genießen können, aber auch Nachteile, die wir vorerst hinnehmen müssen. Statt ein klares JA zu äußern, würde ich diplomatisch sagen: „Ich bin anders glücklich. Bewusster. Innerlich ruhiger. Selbstbestimmter. Stärker. Werteorientierter. Mental Klarer. Öfter Lachend.“

Und ich hoffe, dass diese Art des Glücklichseins nachhaltiger ist als die, die ich früher gelebt habe. Es ist ok, wenn es an der einen oder anderen Stelle hakt. Aber ich habe endlich aufgehört, hinter dem hinterher zu hetzen, was mir durch andere Leute vorgelebt wird, es sei notwendig um glücklich zu sein. Alles hat seine Zeit und für manches ist jetzt eben nicht die Zeit.

Ich weiß, dass ich noch nicht am Ende meines Weges bin, aber ich vertraue darauf, dass alles gut wird. Jetzt kann ich das – vertrauensvoll und zuversichtlich in die Zukunft blicken. Das war mir vor 1,5 Jahren nicht möglich – ganz im Gegenteil sogar. Da war ich mitunter der Meinung, dass sich die Zukunft ohne meine Person viel besser gestalten lässt als mit ihr.

„Heute ist ein guter Tag um glücklich zu sein. Wenn´s bliebe, mir zuliebe. Wird auch langsam Zeit.“ (Max Raabe)

Kategorien
Allgemeines

Wie aus Pandoras Büchse eine funkelnde Spieluhr wurde

Seit fast 30 Jahren schleppe ich einen Rucksack mit mir rum. Anfangs war er noch sehr klein, aber er wuchs von Jahr zu Jahr und wurde stetig größer. Wenn ich jemanden begegne, ahnt er von diesem Rucksack nichts, er sieht ihn nicht mal ansatzweise, für mich ist er jedoch allgegenwärtig. An guten Tagen ist er leichter, an schlechten Tagen ist er so schwer, dass ich kaum laufen kann.  

Ähnlich der Büchse der Pandora enthält mein Rucksack größtenteils Trauer, Tod, Verlust, Schmerz und Wut. Deswegen habe ich bisher alles daran gesetzt, diesen Rucksack fest verschlossen zu halten – es durfte niemand reingucken und es sollte auch nichts zufällig daraus entwischen. Einzig allein aus der Hoffnung heraus, dass dieser verhasste Rucksack von sich aus kleiner wird und irgendwann vielleicht verschwindet, habe ich niemanden davon erzählt.

Und warum sollte ich auch davon erzählen? Die Themen Tod und Trauer sind nicht gesellschaftsfähig, sind kein typisches Gesprächsthema nachmittags beim Kaffee trinken und werden auch nicht gehypt wie die angesagtesten Influencer. Ganz im Gegenteil, diese Themen werden tabuisiert, aus dem alltäglichen Leben verbannt, mit dem Ziel, so wenig wie möglich darüber zu sprechen, zu lesen, zu hören und zu sehen. Frei nach der Devise: Sehe ich dich nicht, bist du nicht da!

Soll ich dir was sagen? Es hat nicht funktioniert. Ich habe mir wirklich Mühe gegeben, aber es hat nicht geklappt, viele Jahre nicht. Indem ich diese Tabu-Themen ganz tief in mein Inneres vergraben habe, habe ich die Sache an sich nur noch schlimmer gemacht – der Rucksack wurde immer schwerer und die Angst, die Büchse zu öffnen, immer größer.

Nun nehme ich seit einiger Zeit an einen wöchentlichen Kurs teil, durch den ich am Ende die Möglichkeit habe, ehrenamtlich als Trauer- oder Sterbebegleiterin zur Verfügung zu stehen. Dieser Kurs und die Inhalte dieser Stunden haben mich von Anfang an gezwungen, mich mit dem Tod und der Trauer auseinanderzusetzen, in einer mir bisher unbekannten und ungewollten Intensität.

Für diesen Kurs habe ich mich ganz bewusst entschieden, weil ich etwas Gutes tun möchte und hoffentlich gleichzeitig meine größten Dämonen – Tod und Trauer – damit besiege, einfach weil ich mich ihnen stelle.

Soll ich dir was sagen? DAS funktioniert!

An dem letzten Samstag trafen sich alle Teilnehmer zu einer Tagesveranstaltung, die das Thema „Eigene Trauererfahrungen“ trug. Jeder sollte über seine persönliche Begegnung mit dem Tod berichten. Vor diesem Tag habe ich mich gefürchtet, weil ich mich ganz genau kenne und wusste, dass es ein Tag voller Emotionen und Tränen wird. Es kam wie es kommen musste. Mir liefen schon bei der ersten Geschichte die Tränen. Das hörte auch den ganzen Tag nicht mehr auf und fand seinen Höhepunkt als ich an der Reihe war, meine eigene Geschichte zu erzählen.

Ich erzählte, was passiert war – damals am 15. November 1994 – woran ich mich erinnern kann, wie ich mich gefühlt habe, was ich vermisst habe und wie dieser Tag bis heute meine Leben prägt. Ich konnte endlich die Worte loswerden, die ich bisher hinter verschlossenen Türen geheim gehalten habe. Diese Worte konnte ich endlich jemanden sagen, der neutral ist, der mich nicht mit tränengefüllten Augen anschaut und bei dem ich keine Angst haben muss, alte Wunden wieder aufzureißen. Der den Tod als Teil des Lebens betrachtet und ihm damit seine Macht nimmt, die er so viele Jahre auf mich ausgeübt hat.

Jetzt merke ich, wie mein Rucksack allmählich leichter wird, offen ist, für andere zugänglich und das eine oder andere Detail auch mal rausfallen darf.

Ich weine immer noch, wenn ich an meinen Bruder Thomas denke, der durch einen Autounfall ums Leben gekommen ist, aber ich habe einen besseren Weg gefunden, damit umzugehen. Ich vermisse ihn mehr denn je und es gibt keinen Tag, an dem ich nicht an ihn denke. Doch die Erinnerungen, die ich an ihn habe – sein schneller Gang, sein aufrichtiges Lachen, seine verrückte Vorliebe für Cola mit Brötchen und die ungezwungene Art wie er mit mir als Schwester umgegangen ist, sind schöne und wertvolle Erinnerungen, die ich zulassen darf, jetzt in einer funkelnden Spieluhr aufbewahre, dort zum Leuchten bringe und nebenbei von seiner Lieblingsmusik begleitet werden. Die es verdient haben, gefeiert und mit anderen geteilt zu werden.

Kategorien
Deutschland

Pest oder Cholera?

Mein Opa hat früher immer gesagt: „Über Geld spricht man nicht, Geld hat man!“

Wer mich kennt, weiß, dass ich eher zu der unkonventionellen Sorte von Menschen gehöre. Ich bin jemand, der sonntags Wäsche wäscht, sein Bettzeug auch in den Monaten mit „R“ raushängt und zu einer Geburtstagspartys einlädt, zu der die Gäste ausdrücklich aufgefordert werden, keine Geschenke mitzubringen. Also breche ich auch mit dieser „Tradition“ und spreche in diesem Beitrag über das Thema Geld.

Einer der Vorzüge des Berufes „Chemieingenieur/-in“, den ich nach meinem Studium 15 Jahre lang ausgeübt habe, ist der, dass man dabei recht gutes Geld verdient. Dabei ist „gut“ natürlich relativ, aber insgesamt gesehen konnte ich mich persönlich nicht beschweren und wenn ich mir ansehe, in welchen Firmen meine ehemaligen Kommilitonen arbeiten, gehe ich davon aus, dass auch sie finanziell ganz gut aufgestellt sind.

Mein gutes Gehalt erlaubte es mir, von Anbeginn meiner beruflichen Karriere immer finanziell unabhängig sein zu können. Ich konnte mir allein eine Wohnung leisten, ein eigenes Auto fahren und hatte noch Geld für Urlaube, Freizeitaktivitäten und sonstiges übrig. Alle Dinge waren nicht luxuriös und kein oberster Standard aber für mich waren sie völlig ausreichend, denn ich hatte meine Freiheiten.

Wer jetzt eins und eins zusammenzählt, kommt ganz schnell zu dem Schluss, dass ich derzeit nicht mehr dieses entsprechende Gehalt beziehe, weil ich nicht mehr als Chemieingenieurin arbeite. Die Gehaltsklasse einer Texterin liegt einige Etagen tiefer.

Und wie sieht es denn jetzt mit meiner finanziellen Unabhängigkeit aus?

Die musste ich abgeben an dem Tag, an dem ich meinen letzten Ingenieursjob gekündigt habe. Damals hatte ich über diese mögliche Konsequenz überhaupt nicht nachgedacht – dafür wird sie mir heute umso schmerzlicher bewusst. Nach 15 Jahren Berufserfahrung wäre es mir heute nicht mehr möglich, mein Leben finanziell allein und auf die gleiche Weise wie früher zu bewältigen. Für mich – ein Mensch, der seine Selbständigkeit, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit immer schon als höchste Güter angesehen hat – gleicht dieser Zustand einem mentalen Knock-out, der nicht nur nach und nach mein Selbstwertgefühl schwinden lässt, sondern mir mehr und mehr das Gefühl gibt, fremdgesteuert in einem Käfig zu sitzen.

Als wir Mitte August letzten Jahres wieder nach Deutschland zurückgekommen sind und uns die Höhe der uns bevorstehenden Nebenkosten fast erschlagen hätte, war für Ronny und mich klar, dass unsere beiden Gehälter nicht ausreichen werden, um unsere Fixkosten decken zu können. Da ich von Haus aus, aus einem anderen Berufsmetier komme, habe ich angefangen, nach Ingenieursstellen in meiner Nähe zu gucken.

Einer der Nachteile des Berufes „Chemieingenieur/-in“ ist der, dass man ihn nicht überall ausüben kann – was der Grund dafür ist, dass wir so oft umgezogen sind – und schon gar nicht in der Altmark – das ist wiederum der Grund, warum wir nicht schon früher hierher gezogen sind. Das Ergebnis meiner Bemühungen der letzten Monate stellt mich nun vor die Wahl und ich kann mich zwischen Pest und Cholera entscheiden.

Nehme ich einen Vollzeitjob an, lande ich früher oder später wieder im Hamsterrad. Ich verdiene dann wieder so viel Geld, dass ich finanziell unabhängig bin, habe aber im Gegenzug kaum Zeit mehr für die Familie, für mich selbst, für Sport oder sonstiges. Nehme ich jedoch einen Teilzeitjob an, kann ich vorerst dem Hamsterrad entkommen. Ich finde noch Zeit zum Schreiben, für die Kinder und für andere Sachen. Dann kann ich meiner finanziellen Unabhängigkeit aber erst mal für eine lange Zeit adé sagen.  

Da stellt sich mir nun die Frage: Wie wichtig ist mir meine finanzielle Unabhängigkeit und welchen Preis muss ich bereit sein, dafür zu zahlen?

Kategorien
Allgemeines

Alles auf Anfang

Nun ist es wieder soweit…heute ist der 01. Januar und das Jahr 2023 beginnt. Ich mag den Januar überhaupt nicht, weil er der Anfang eines neuen Jahres ist, das erneut bewältigt werden muss und alles an Überraschungen bereithalten kann, was man nicht mal im Ansatz erahnt.

Beginnt ein neues Jahr fühle ich mich wie Sisyphos. Eine Figur aus der griechischen Mythologie, die von den Göttern die Strafe auferlegt bekommen hat, einen schweren Stein den Berg hochzurollen. Ist der Stein oben, rollt er jedoch wieder ins Tal und Sisyphos muss von vorne beginnen: Habe ich ein Jahr geschafft – mit all seinen Höhen und Tiefen – stehe ich wieder am Anfang und muss von neuem beginnen.

Dabei spielt es sicherlich auch eine Rolle wie das alte Jahr verlaufen ist. Stand es unter einem schlechten Stern, denke ich mir: „Endlich ist das alte Jahr vorbei! Ich freue mich auf das neue, denn es kann nur besser werden.“ Wenn ich aber an das Jahr 2022 denke, denke ich mir: „Schade, dass es vorbei ist, denn es war so schön.“

Letzte Nacht, während ich dem in den Himmel aufsteigende Feuerwerk zugesehen habe, habe ich die letzten 12 Monate nochmal vor meinem geistigen Auge abgespielt und überlegte dabei, was ich mit meiner Familie alles erlebt habe. Zusammenfassend kann ich sagen, dass es ein wirklich außergewöhnliches, aufregendes und emotional turbulentes Jahr war. Ein Jahr, durch das ich nicht nur wie sonst mit viel Arbeit und Stress durchgekommen bin, sondern ein Jahr, in dem ich die Momente wahrhaftig gelebt habe. Ich habe endlich Dinge gemacht, die ich schon immer machen wollte und das finde ich grandios:

  • Ich bin ausgewandert.
  • Ich habe meine eigene Homepage mit eigenem Blog ins Leben gerufen.
  • Ich habe mit Schreiben Geld verdient.
  • Ich wohne wieder in der Altmark.
  • Ich werde mich ehrenamtlich der Hospizarbeit widmen.
  • Zu unserer Familie gehören 2 Katzen.
  • Zu unserer Familie gehören 2 Hunde.
  • Zu meinem Geburtstag hatte ich eine Riesenparty, so wie ich sie wollte.

Ich weiß, dass sich so ein Jahr wie 2022 nicht wiederholen und 2023 ganz sicher ruhiger wird. Trotzdem will ich versuchen, mir den Geist des letzten Jahres zu bewahren und ihn als Begleiter für die bevorstehende Zeit bei mir zu behalten. Ich möchte mehr von den „Das-wollte-ich-schon-immer-mal-machen“ Dingen tun und weniger sagen: „Nein, jetzt passt es gerade nicht, ich warte bis…“ Ich möchte mehr gewollte, gelebte Momente und weniger pflichtgebundene To-Do-Listen.

Immer stärker wird mir vor Augen geführt, dass nichts unendlich ist und dass es Sachen gibt, für die es zu spät sein wird, wenn sie aufgeschoben werden. Also ist doch JETZT genau der richtige Zeitpunkt dafür.

2023 ist sicher weniger abwechslungsreich, muss aber nicht automatisch langweilig und stupide werden. Es hat die Chance verdient, genauso großartig zu werden wie 2022 – durch neue Möglichkeiten, andere Wege, wertvolle Momente und bemerkenswerte Menschen – eben auf seine eigene, ganz besondere Art und Weise.

Mit diesem Gefühl fällt es mir leichter, den Jahresbeginn erwartungsvoll und nicht frustrierend zu meistern und schaffe es dadurch vielleicht, den Stein für einen kurzen Augenblick am Runterrollen zu hindern.

Kategorien
Allgemeines

Die Leichtigkeit des Seins

Ja, mittlerweile ist unser Alltag gefüllt – gut gefüllt – manchmal überfüllt. Das Gute daran: Ich komme weniger zum Grübeln. Das Schlechte daran: Ich komme auch weniger zum Schreiben. Naja, Schreiben tu ich eigentlich den ganzen Tag, aber eben nicht für meinen Blog und das sieht man auch an meinen Einträgen. Der letzte Beitrag ist über 1 Monat her. Einerseits passiert nichts, worüber es sich lohnt zu schreiben und wenn denn mal was passiert, komme ich nicht dazu, einen Artikel darüber zu verfassen.

Die Leichtigkeit des Seins, die ich in Montenegro gespürt habe und am Anfang hier in der Altmark, ist nur noch blasse Erinnerung. Wie schön es doch war, keine Verpflichtungen zu haben – gegenüber einem Arbeitgeber, Ämtern oder sonstigen Leuten oder Institutionen. Geld war da – wir brauchten auch nicht viel und wir konnten uns den Tag so gestalten wie wir es wollten ohne Zeitpläne oder Termine einhalten zu müssen. Jetzt ist alles weg und der deutsche Alltag hat seine Krallen wieder ganz fest um uns geschlungen. Es geht darum, stetig und pünktlich abzuliefern – Zeit, Geld, Engagement, Zuverlässigkeit, Kreativität, … Ein „Nein!“, „Will ich nicht!“ oder „Warum?“ ist nicht gewollt… und zu ist der Käfig, der Hamsterkäfig, aus dem mich (auch gedanklich) zu befreien so lange gedauert hat! Es ist nicht mal ein goldener Käfig, im Moment ist es nur ein kalter Käfig, denn ich friere jeden Tag.

Highlights? In einem langweiligen Alltag werden Kleinigkeiten zu Highlights. Wie z. B. die Vorbereitungen auf meinen 40. Geburtstag, der in 20 Tagen stattfindet. Geplant ist eine große Party, die ich mir schon immer gewünscht habe. Und die hoffentlich noch besser wird als ich sie mir jetzt gerade vorstelle.

Hajdi und Toni im November 2022

Wir haben seit 4 Wochen zwei Hundedamen, die uns aus Montenegro gebracht wurden. Antonia und Hajdi gehörten bis vor kurzem zu dem Haus in der Nähe von Kotor, auf das wir im April aufgepasst hatten. Wir hatten uns sofort in die beiden verliebt und jetzt sind sie Teil unserer Familie. Sie „zwingen“ uns, jeden Tag mindestens zweimal mit ihnen rauszugehen und das macht das grässliche Regenwetter für mich irgendwie erträglich.  

Blacky und Schnurrekater im Katzennest_Okt 22

Unsere beiden Katzen sind auch immer noch da und wachsen, werden größer und dicker. Das sind solche Schmusekatzen, dass man sie einfach liebhaben muss. Und sie freuen sich, wenn ich da bin, suchen die Nähe zu mir, weil sie wissen, dass sie immer ein paar Streicheleinheiten bekommen, wenn ich mir Zeit für sie nehme.

Die Leichtigkeit des Seins…

…wiegt im Moment sehr schwer und landet in einer Waagschale mit meinen Gedanken.

Kategorien
Allgemeines

Freund oder Feind?

Jeder Mensch ist davon betroffen, in seinem Leben Unmengen von Entscheidungen treffen zu müssen. Die kleineren davon, die eher unbedarften, treffen wir spontan und aus dem Bauch heraus – Welche Pizza möchte ich jetzt essen? Welche Hose ziehe ich heute an? Schmeckt mir die Schokolade oder nicht?

Dann gibt es die Entscheidungen, die eine Stufe relevanter sind. Dafür wäre eine Pro-Contra-Liste ganz nützlich – Wann sollte ich mir ein neues Auto kaufen? Wäre ein Arbeitsplatzwechsel jetzt ratsam?

Aber dann gibt es da auch noch die wirklich, wirklich wichtigen Entscheidungen. Diese Art der Entscheidungen wird weder aus dem Bauch heraus, noch mit Hilfe einer Pro-Contra-Liste getroffen. Diese Art der Entscheidungen wird meistens mit dem Herzen getroffen. Die Tragweite dieser Entscheidungen erkennt man daran, dass man ihre Konsequenzen das ganze Leben lang spürt. Meistens sind diese Entscheidungen auch so gravierend, dass nicht nur der Entscheider selbst die Konsequenzen trägt, sondern auch viele Menschen in seinem Umfeld mit, ganz automatisch, ohne dass sie informiert wurden und ohne, dass sie vorher vor einer Wahl gestellt wurden.  

In meinem Freundeskreis befindet sich ein Pärchen, das für mich ein Paradebeispiel dafür ist, welch enorm große Konsequenzen eine einzige Entscheidung haben kann. Zwei sich liebende Menschen wurden vor vielen Monaten gezwungenermaßen vor einer Wahl gestellt. Sie hatten zwei Möglichkeiten zur Auswahl. Um für sich den richtigen Weg zu finden, haben sie sich viel Zeit genommen. Die endgültige Entscheidung haben sie zusammen getroffen und sie haben sie mit ihrem Herzen getroffen. Sie haben sich voller Hoffnung für das Leben entschieden, ohne auch nur im Ansatz zu erahnen, was es bedeuten würde, wenn der worst case eintreffen sollte.

Leider ist der worst case eingetroffen und hat das komplette Leben der beiden umgekrempelt. Angetrieben von ihrer Liebe geben diese beiden Menschen seit vielen Monaten alles, was sie haben – ihre Zeit, ihre Energie und ihre gesamte psychische und physische Kraft – jeden Tag, den ganzen Tag. Sie gehen dabei bis an ihre Grenzen. Und sollte der Tag kommen, an dem ihre Mühen ein Ende finden, wird ihr Leben nie wieder so sein, wie es vor der Entscheidung mal war. Für das Danach gibt es zwei mögliche Szenarien – entweder sie gehen daraus gestärkt hervor oder sie gehen daran kaputt.

Die Geschichte meiner beiden Freunde berührt mich so stark, dass es mir schwer fällt, meine Gefühle in Worte zu fassen. Das, was die beiden jeden Tag leisten, verdient höchsten Respekt und ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen, in dieser Situation die gleiche Stärke aufzubringen wie sie.

Für mich persönlich nehme ich aber zwei Sachen mit:

1. Sollte ich in der Zukunft vor Entscheidungen mit der höchsten Wichtigkeit gestellt werden, werde ich mir mehr Zeit nehmen um eine Wahl zu treffen. Ich werde mir mögliche Konsequenzen ableiten und mir gleichzeitig überlegen, ob ich genug Kraft habe, diese Konsequenzen bewältigen zu können.

2. Ich stelle mir die Fragen: Ist das Herz bei gravierenden Entscheidungen immer ein verlässlicher Partner? Ist es dann Freund oder Feind?

Auf mein Leben zurückblickend stelle ich fest, dass mein Herz doch einen sehr großen Einfluss bei der Wahl meiner Entscheidungen hatte und in mir meistens einen starken Antrieb bewirkte. War das jetzt gut oder schlecht? Wie würde mein Leben aussehen, wenn ich meine gefühlsgelenkten Entscheidungen rational getroffen hätte?

Ich wäre jetzt nicht hier – so viel ist sicher!

Was passiert ist, ist passiert und kann ich nicht mehr ändern aber Fakt ist doch eins: Jede Entscheidung, die ich in meinem Leben getroffen habe, hat mich dort hingeführt, wo ich jetzt bin. Für den entsprechenden Augenblick schien die Entscheidung richtig – vielleicht nicht immer zu 100% durchdacht, manchmal vielleicht auch zu spontan, aber für den Moment schien alles plausibel. Und auch wenn ich manche Dinge im Nachhinein anders gemacht hätte, stehe ich doch zu und hinter meinen Entscheidungen und kann ihnen nur für meine Zukunft die Wichtigkeit einräumen, die sie sich aus der Vergangenheit verdient haben.

Kategorien
Deutschland

Vom Zögern zum JA-Sagen

So nach und nach werde ich mir über eine Eigenschaft bewusst, die ich mir durch unsere Auswanderung irgendwie angeeignet habe…ich bin zum JA-Sager geworden!

Mir fällt dabei automatisch der Film mit dem gleichnamigen Titel ein, dessen Hauptrolle der Schauspieler Jim Carrey spielt. Im Grunde genommen geht es darum, dass ein unglücklicher, kontaktscheuer Mann auf Rat eines Freundes ein Motivationsseminar besucht und seitdem zu allem JA sagt. Entgegen allen Befürchtungen widerfahren ihm nur positive Dinge und sein Leben ändert sich grundlegend. Dieser Film beruht auf dem autobiografischen Buch von Danny Wallace „Yes Man“, in dem der Autor beschreibt, was alles Unglaubliches passieren kann, wenn man sich entscheidet, JA zu sagen.  

Und JA, das mache ich jetzt auch. Ich finde, mein Leben ist zu kurz, um ständig zu zögern, mir Chancen entgehen zu lassen und Gelegenheiten ungenutzt zu lassen.

Gestern z. B. war ich mit meiner besten Freundin auf einer Messe in Hannover und habe zum ersten Mal in meinem Leben getrocknete Grillen, Mehlwürmer und eine getrocknete Heuschrecke gegessen. Ich hatte vor Jahren mal einen Bericht darüber im Fernsehen gesehen und hatte mich damals schon gefragt, ob das wirklich so schmeckt wie die Koster es beschrieben haben – ich war einfach neugierig auf den Geschmack. Und was soll ich sagen: es hat wirklich nicht schlecht geschmeckt. Die Heuschrecke war ein bisschen muffig, aber die Mehlwürmer und die Grillen waren richtig knusprig. Sie hatten keinen wirklichen Eigengeschmack und man hätte sie leicht auch mit anderen knusprigen Sachen verwechseln können. Das war eine aufregende Sache für mich, von der ich sogar meinen Enkeln noch erzählen kann.

Eine zweite Sache ist die, dass ich mich derzeit sehr für den Ambulanten Hospizdienst interessiere. Ich möchte gern den Ausbildungskurs für ehrenamtliche Mitarbeiterinnen belegen, mit dem ich später dann z. B. eine Sterbebegleitung übernehmen kann. Dafür habe ich mich schon vor etlichen Jahren interessiert, bin diesem Interesse aber nie weiter nachgegangen, weil ich mir unsicher war, weil ich gezweifelt habe und Angst hatte, dass mich diese ehrenamtliche Arbeit an meine emotionalen Grenzen bringt. Die Zweifel sind immer noch da, aber im Gegensatz zu damals sind sie mir heute egal. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen toten Menschen gesehen und ich habe Angst davor, aber warum sollte ich dieser Angst so viel Macht über mich geben, dass sie mich daran hindert, anderen Menschen zu helfen. Und wenn es mich an meine emotionalen Grenzen bringt – na und! Ich kann jederzeit aufhören, keiner zwingt mich, bis ans Ende zu gehen. Aber vielleicht bringt mir der Kurs viel mehr als ich mir jetzt vorstellen kann. Wenn ich es nicht ausprobiere, werde ich es nicht herausfinden.

Ich werde ein JA-Sager sein!

Ich pfeif auf die Ängste, Zweifel und möglichen Konsequenzen. Ich pfeif auf die „Ja, aber wenn…“, die möglichen „Vielleichts“ oder die „wahrscheinlich wird dann“. Nein! Ich überlege mir, was die schlimmste Konsequenz wäre und wenn diese für mich akzeptabel ist, dann ist es ok. Natürlich differenziere ich. Damals wie heute würde ich nicht ohne Sicherung eine Brücke runterspringen – das ist lebensgefährlich und dumm – aber zu einem Bungee-Sprung würde ich heute nicht mehr nein sagen, wie ich es sonst die letzten Jahre getan hätte.

JA zum Auswandern gesagt zu haben, hat mir gezeigt, dass Entscheidungen Verluste nach sich ziehen, die manchmal auch sehr schmerzhaft sein können, aber sie enthalten auch immer Gewinne – wertvolle Gewinne, über die ich jeden Tag dankbar bin. Aus beiden Arten von Konsequenzen bin ich gestärkt hervorgegangen und das ist doch das, was letztendlich zählt.